Wenn man sich - von einem der beiden Sprungtore kommend - dem grauen Klotz der Thukker-Industrie-Station im Freatlidur-System mit seinen kastenförmigen Fabrikanlagen und den Abgasschloten nähert, neigt man dazu, die Bewohner ob ihrer Lebensumstände zu bedauern. Doch der äußere Eindruck dieser Station täuscht ihre Besucher.
Auch Mirona, der Leiterin der Abteilung RESSOURCES der X-Trading Company war es nicht anders ergangen. Umso erstaunter war sie über die Vorliebe der Thukker für helle Pastellfarben, die die Wohn- und Freizeitbereiche der Station tatsächlich attraktiv erscheinen ließen.
Im großen Panoramasaal, der im vorspringenden Mittelabschnitt der Station über Eck eingebaut war, hatten sich anlässlich der heutigen Urkundenvergabe die Vertreter der ansässigen Produktions- und Forschungsbetriebe eingefunden und warteten auf das Eintreffen des Stationsleiters.
Mirona, Mila und Draghi vertraten die X-Trading Company. Draghi, ein gallentischer Händler, war der Handelsbevollmächtigte der X-Trading Company für das Minmatar-Imperium - firmenintern als Imperial Magnate bezeichnet. Heute sollte es auf der Versammlung aber nicht um Handelspolitik gehen und deswegen begleitete Mila, Leiterin der Bereiche Produktion und Forschung der hiesigen X-Trader Niederlassung, die beiden Manager.
"Eines muss man den Thukkeren lassen," meinte Mirona und sah sich im Saal nach allen Seiten um, "das ist gekonnt eingerichtet."
Der Boden des Saales fiel in Richtung zum rechteckigen Panoramafenster in flachen Stufen ab und die Farbe von Wänden, Decken und Fußboden verlief von einem hellen Lichtblau an den Eingängen zu einem dunklen, türkisfarbenem Blau am Fenster, das ziemlich exakt der vorherrschenden Farbe des Weltraumhintergrundes in diesem System entsprach. Auch die Lichtführung wurde zum Panoramafenster hin stark abgedunkelt.
"Man hat den Eindruck, in den Weltraum hinausspazieren zu können. Was meinen Sie Draghi?" fragte Mirona den Leiter des XT-Tradeposts.
"Ja, es ist schon ziemlich beeindruckend. Besonders, wenn man sich abends hier aufhält und das Licht auf Nachtbeleuchtung umgeschaltet ist. Ich sitze nach Dienstschluss noch ganz gerne hier und schaue dem Treiben da draußen zu."
Draghi wies mit der Hand in Richtung der auf der rechten Seite in den Weltraum hinausgebauten Andockschleuse. Soeben schien ein Geleitzug Docking-Erlaubnis bekommen zu haben: in einer langgestreckten Formation verließen mehrere Frachter den Orbit und steuerten - gleichen Abstand und Geschwindigkeit beibehaltend, schwerfällig den Andockhangar an. Das Schiff eines Zollinspektors flog in entgegengesetzter Richtung an der Kolonne entlang - diese Station war eine Exklave des Thukker-Stammes im Hoheitsgebiet der Minmatar und unterlag einigen Importbeschränkungen gemäß dem Abkommen zwischen der CONCORD und den Imperien.
Dem Anschein nach war alles in Ordnung, das Inspektorenteam wandte sich anderen Schiffen zu.
An der Eingangstür entstand Unruhe.
"Scheint loszugehen," meinte Mila", bisher habe ich den Kommandanten nur im Holo gesehen. Bin mal gespannt."
Den beiden Männern, die zielsicher zum Panoramafenster gingen, wurde bereitwillig Platz gemacht. Vorweg - mit ruhigen Schritten, selbstsicher umherschauend und Bekannte grüßend - ging der Stationskommandant.
"Sieht ja ganz gut aus für sein Alter," murmelte Mila und grinste Draghi an.
"He, der Gute ist mal gerade 35," gab Draghi zurück, "außerdem - die sehen alle so aus. Schließlich haben die 1,2g auf dem Heimatplaneten. Ich muss echt arbeiten dafür."
Der Thukker sah in ihre Richtung und hob die Hand zum Gruß. Mirona verbeugte sich formell. Ja - Mila hatte recht. Obwohl die Tunika den Körper weit umfloss, waren der kräftige Hals- und Schulterbereich unübersehbar. Dazu die bewusst aufrechte Art zu gehen, der militärische Haarschnitt - wahrscheinlich ein Offizier der Kampfverbände, der hier einen Abschnitt der gehobenen Stabsverwendung absolvierte.
Die Statur des Kommandanten ließ den Gallenter, der einen kleinen Aktenstapel tragend, hinter ihm her trabte, fast wie eine Karikatur des braven Bürosachbearbeiters erscheinen.
Mirona grinste - was für ein Paar!
Der Stationskommandant hatte die unterste Ebene des Saales erreicht und wandte sich nun an die Zuhörer, die sich auf den Stufen des Saales in einem Viertelkreis verteilt hatten.
"Meine Damen und Herren.
Ich freue mich, dass Sie meiner Bitte so zahlreich nachgekommen sind. Wir wollen heute die Lehrgangsurkunden der Spezialausbildungen unserer Station an die jeweils Besten persönlich aushändigen und im Rahmen dieser Zusammenkunft auch den Rahmen für persönliche und geschäftliche Kontaktaufnahme bieten."
Der Thukker schaute mit gewinnendem Lächeln in die Runde.
"Ich hoffe, dass mir die richtigen Daten übermittelt wurden ..."
... ein kurzer Blick auf den geflissentlich nickenden Sekretär ...
"... und bitte folgende Personen zu mir herunterzukommen. Jeder von Ihnen hat seine Fachausbildung der Stufe 5 als Bester der Lerngruppe abgeschlossen - sie haben sich diese kleine Ehrung wirklich verdient."
"Ergan Raduwei - Bartering ... na, ich werde meine Broker wohl vor Ihnen warnen müssen...
Korsan DaGuardia - Gunnery ... daGuardia, da Guardia ... waren Sie nicht Schießlehrer bei meiner Dragonerstaffel, Egbinger-Sektor?"
"Wusste ich´s doch," dachte Mirona und achtete nicht auf die Antwort des Soldaten.
"Mila - Resarch ... hmm, was erforscht eine Handelsgesellschaft auf dieser Station? Selbstleuchtende Container zum besseren Wiederfinden in dunklen Roidbelts?"
Verhaltenes Kichern im Saal.
"Los, ab nach vorne." Draghi schubste Mila leicht an, "... und lächeln, Mila."
Mila drehte sich um und verzog das Gesicht.
"Bäh!"
Fast wäre sie an der nächsten Stufe gestolpert. Jetzt spürte sie erst recht, dass ihre Wangen glühten. Genau das hatte sie vermeiden wollen, verd...!
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Tage später saß Mila im Forschungslabor der X-Trading Company am Eingabeterminal des Brennkammer-Teststandes. In Zusammenarbeit mit Spezialisten des alliierten Squads Hegemonic Core hatte sie begonnen, die chemischen Treibsätze der schweren Mjolnir-Torpedos in Abstimmung auf die Resonanz der Brennkammer zu optimieren. Insbesondere die Hochtemperaturzonen der Vektorstrahlruder waren problematisch, da sie trotz der kurzen Belastungszeit zur Verformung neigten. Einerseits mussten sie im Abgasstrahl liegen, andererseits musste der Verbrennungspunkt möglichst weit von ihnen wegliegen, aber dennoch so optimal in der Brennkammer, dass ein konstanter Strahldruck gewährleistet war, ohne die Eigenschwingung des Flugkörpers anzuregen.
Mila seufzte. Der letzte Testlauf der neuen Brennkammer war zwar erfolgreich, aber nicht aussagekräftig gewesen. Die Nocxium-Beimischung im Treibstoff hatte wie erwartet die Abbrenngeschwindigkeit verlangsamt, aber auch eine Senkung der Flammtemperatur mit sich gebracht. Die Strahlruder waren bei weitem nicht an die Grenze der Belastbarkeit gekommen.
Sie würde diesmal zusätzlich Isogen zugeben. Isogenstäube neigten zu heftiger Reaktion, was für die Brenntemperaturerhöhung optimal sein würde. Das Noxcium würde dabei verhindern, dass es zu einem Rückschlag in den chemischen Treibsatz kommen würde. Der Rechner hatte beide Beimengungen exakt berechnet und war für den nächsten Testlauf vorbereitet.
Ihr Mjolnir-Raketentorpedo würde eine neue Generation Jagdtorpedos begründen. Sie würde dem Stationskommandanten persönlich die erste Serie zur Erprobung übergeben.
Mila lächelte verträumt und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Ja - sie konnte es sich ganz genau vorstellen, wie sie neben dem gut aussehenden Offizier zu den Hangars gehen würde. Vorbei an den Büros der anderen Gesellschaften. Ganz besonders diese Zicke der Stoned Inc. würde ein dämliches Gesicht machen. Ja - so würde es sein.
"Fertig."
Ohne Hinzusehen bestätigte Mila verträumt die letzte Eingabe am Rechner - und tippte mit der legeren Handbewegung nicht nur auf die Bestätigungstaste ...
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"neun..."
Mit monotoner Stimme zählte der Computer die Sekunden bis zur Zündung.
"acht..."
Mit ihrem Assistenten saß Mila im Kontrollraum des Triebwerkteststandes und schaute durch die doppelte Panzerplastscheibe auf die Versuchsanordnung.
Der aluminiumfarbene Prototyp des Triebwerks war fest in einer Haltekonstruktion angeflanscht, der Gasaustritt zeigte in den freien Raum - die Irisblende in der Außenwand des Teststandes war weit geöffnet. Farbige Messleitungen waren an verschiedensten Stellen des Raketenmotors angebracht und verschwanden im Hintergrund des Raumes.
"fünf..."
Vor dem Triebwerk war ein verkürzter Treibsatz montiert, gefüllt mit der gestern von Mila bestätigten Mischung.
"drei..."
Die Spannung stieg. Mila konnte kaum stillsitzen. Ihre Gedanken schweiften von der Versuchsanordnung wieder zum Stationskommandanten ab. Er würde sie bestimmt zum Erprobungsflug mitnehmen ...
"Zündung"
Ein scharfes Zischen klang auf, das Sekundenbruchteile später von einem Donnerschlag unterbrochen wurde: das Treibstoffgemisch der Versuchsanwendung reagierte und die vorausberechnete, restlose Verbrennung des Gemisches erzeugte einen tosenden Feuerstrahl, der aus der Station in den Raum schoss.
Greller als üblich, registrierte Mila und kniff die Augenlider etwas enger zusammen. Und die Hyperschallkegel im Abgasstrahl waren auch nicht stabil - sie wanderten weiter nach hinten...
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Ein ungewohntes Geräusch durchbrach die ruhige Bordroutine in der Zentrale der Industriestation. Irritiert wandte der Offizier vom Dienst den Kopf zur Steuerkonsole.
"Abdriftalarm, Sir," kam auch schon die Meldung.
"Die Lagekontrolle meldet eine Driftverschiebung oberhalb der Toleranzgrenze."
"Stark?"
"N... nein. Und nicht mehr zunehmend ... ah - vorbei."
"Auswirkung berechnen. Vorschlag für Ausgleich anschließend zu mir. Ich informiere den Kommandanten."
"Jawohl, Sir."
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"Mila," rief der Assistent und deutete unnötigerweise auf das tobende Triebwerk. Ein Glutfleck hatte sich auf der Brennkammer gebildet, leuchte greller werdend auf und wanderte aufwärts in Richtung Treibladung.
"Ach du Sch...", entfuhr es Mila. Das hohle Brausen der frei liegenden Brennkammer war binnen weniger Sekunden zu einem kreischenden Crescendo angeschwollen, das jetzt auch die Schallisolierung des Leitstandes durchbrach. Der Boden begann zu vibrieren.
Im Versuchsstand verbog sich das Stahlgerüst, das das durchgehende Triebwerk hielt. Der glosende Abgasstrahl wanderte seitlich aus und schickte brüllende, glühendheiße Partikelströme in den Versuchshangar. Feueralarm gellte auf.
Mila war aufgesprungen und hieb auf die grellrote Platte der Not-Abschaltung. Mit schreckgeweiteten Augen blickte der Assistent erst sie an und erhaschte dann noch einen Blick in den Prüfstand, in den der Hartschaum der Vakuumlöschanlage gespritzt wurde.
Dann krachten die Stahljalousien vor den Panzerplastscheiben herunter und versperrten den Blick.
"D... die Halterung, haben Sie d... die Halterung gesehen," brachte der Assistent mühsam hervor.
"Ja, Stavro, hab´ ich. Mann, das war knapp."
Mila ließ sich in den Sessel am Kontrollpult zurückfallen. Mit einer typischen Handbewegung bändigte sie ihre Haare, die schon wieder in die Stirn hingen. Sie wippte den Sessel auf und ab.
"Der Schub war viel zu stark. Der Brennpunkt ist ausgewandert und heiß war er auch. Sehr heiß sogar. Die gesamte Reaktion war zu schnell und zu stark. Ich hatte doch alles berechnet."
Mila sprang unruhig auf.
"Das werden wir im Einzelnen noch mal Schritt für Schritt durchgehen, Mila" sagte der Assistent beschwichtigend, "aber der Schub war wirklich dramatisch - du meine Güte. Der Stationskommandant wird uns das Fell abziehen."
Mila sank wieder auf den Sessel.
"Der Stationskommandant," hauchte sie und ließ den Kopf hängen. Was würde Glennard jetzt von ihr denken? Sie hatte bemerkt, dass er sie bei der Preisverleihung heimlich beobachtet hatte und auch sie hatte Gefallen an dem Offizier gefunden.
Dass er Glennard hieß, hatte ihr eine Freundin aus der Personalabteilung bei einer Tasse Kaffee verraten. Und auch, dass er ebenfalls nach ihrem Namen gefragt hatte.
Vorbei ... er würde sie bestimmt nicht mehr beachten. Eine kleine, dumme Wissenschaftlerin...
Mila spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
Und Stavro beobachtete sie.
"Was glotzt Du," fuhr Mila auf.
"Los, wir müssen die Aufzeichnungen sichern und vor allem die Schubwerte des Gemisches neu berechnen. Ach ja - und ich sollte Draghi und Mirona eine Meldung schicken. JohnBe wird auch nicht begeistert sein, er versucht, das Gesellschaftsvermögen für unsere Raumstation zusammenzuhalten."
Trotzig warf Mila mit einer Kopfbewegung die Haare nach hinten.
"Ist ja nichts passiert," konnte sie schon wieder frech grinsen, "das bezahlen wir aus der Portokasse. Und außerdem, am Schott steht ´Testraum´ und das war schließlich ein Test, oder?"
"Ja," pflichtete ihr Stavro bei, "und was für einer."
Er hüstelte und räusperte sich.
Mila warf ihm einen vernichtenden Blick zu und begann, die Aufnahmen der Hochgeschwindigkeitskameras zu speichern...
© Johannes Zumbansen
aka: JohnBe (2001-2007)