8061 n.Chr., 15175 Jahre vor EST 1
Pete Grisholm schob den Schutzhelm in den Nacken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Stollen erreichte die Temperatur trotz Kühlung leicht 35 Grad. Während der zwei Stunden, die er bereits seine Schicht an der Laserfräse versah, hatte sich der Gesteinsstaub wie eine zweite Haut auf alle ungeschützten Stellen des Körpers gelegt.
Die Arbeit in den Bergwerken der "NewEden Mining" war unangenehm, wurde aber hoch bezahlt. In diesem Fall, wo sich die Mine auf einem Mond und daher unter einer Schutzkuppel befand, kassierte er auch noch einige Zulagen.
Pete Grisholm nahm noch einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche.
"Ahhh ... das tut gut."
Er schraubte den Deckel wieder zu, legte die Flasche wieder in seine Tasche und wollte auf den Fahrstand steigen. Ein Knacken und Knirschen ließ ihn zusammenzucken. Ein dumpfes Rumoren lag plötzlich in der Luft, der Boden begann zu zittern.
"Bergschlag" durchfuhr es ihn siedend heiß. Erste Steine fielen von der Decke und die Verstrebungen ächzten. Die Erschütterung wurde stärker.
Pete Grisholm griff nach seiner Tasche und wälzte sich unter die Abbaumaschine. Dann brach über ihm mit einem Donnergetöse der Stollen zusammen.
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"... ändert der Sender der Freien Kolonien von Eden aus aktuellem Anlass das Programm.
New Eden wurde vor einer Stunde von einer Katastrophe bisher niemals beobachteten Ausmaßes betroffen. Wissenschaftler sprechen von einer Strukturverschiebung des Weltraums und gehen davon aus, dass alle Planeten und Monde unseres Sonnensystems betroffen sind."
Der Sprecher schaute irritiert zur Seite, als ihm ein Assistent ein weiteres Blatt Papier reichte.
"Unsere Korrespondenten berichten von Erdbeben auf allen bewohnten Planeten und Monden. Anscheinend wurden auch Flutwellen auf den Ozeanen ausgelöst. Mehrere erloschene Vulkane sind ausgebrochen. Über die entstandenen Schäden oder die Verluste an Menschenleben gibt es noch keine Schätzungen. Wir erhalten gerade die Meldung ..."
Er schaute auf das Blatt und wieder in die Kamera.
"Wir haben soeben die Meldung erhalten, dass es im Bereich des Sprungtores EVE zu einem Energie-Ausbruch gekommen ist, der offenbar mehrere Raumschiffe eines Konvois erfasst und zerstört hat."
Der Sprecher schaute auf seinen Kontrollmonitor und wirkte irritiert.
"Und eine weitere ..."
Seine Stimme versagte und er räusperte sich.
"Entschuldigung ... Und eine weitere Nachricht erreicht uns soeben: Das zentrale Observatorium gibt offiziell bekannt, dass das Raumbeben ..."
hier schüttelte der Nachrichtenmann leicht den Kopf,
"... auch die Sonnenaktivität beeinflusst hat. In den nächsten Tagen muss mit Helligkeitsschwankungen und starken Störungen elektronischer Geräte gerechnet werden. Vermeiden Sie in Grellphasen jeden Aufenthalt im Freien. Einzelheiten folgen."
Der Nachrichtensprecher schaute wieder in die Kamera:
"Die Berichte im Einzelnen: Auf dem zweiten Planeten sind insbesondere ..."
Er stockte und griff sich ans Ohr:
"Ja ... ja ...
Meine Damen und Herren, ich höre soeben, dass wir eine Direktschaltung haben. Ich gebe ab zu Peter Scholl, der sich an Bord eines Passagierraumschiffes in der Nähe des Sprungtores EVE befindet. Peter Scholl, hören Sie mich ...?"
Das Bild wechselte und zeigte jetzt offensichtlich das Innere der Passagierkabine einer Raumfähre. Der Korrespondent hielt scheinbar eine Kleinkamera am ausgestreckten Arm auf sich gerichtet und sendete live.
"Ja, Robert, ich höre Sie. Wir sind hier an Bord eines Ferienfliegers Richtung Erde. Gerade ist vor unseren Augen ein kompletter Lastkonvoi von einer Art feurigem Ausbruch des Sprungtores zerrissen worden. Zu unserem Glück befanden wir uns am äußersten Rand einer Warteschleife. Nicht auszudenken, was ... naaa ... ich ... "
Das Bild schwankte. Die Kabine war plötzlich in helles Licht getaucht, alle Farben des Regenbogens versuchten gleichzeitig, die Vorherrschende zu sein. Dann ein kurzes Flackern ... Bild- und Tonausfall.
Der Nachrichtensprecher übernahm.
"Soweit Peter Scholl live. Wir versuchen, die Satelliten-Verbindung wieder herzustellen. Bis dahin eine kurze Übersicht über den Ablauf der Katastrophe:
In den frühen Morgenstunden kam es in unserem Sonnensystem zu einem bisher niemals beobachteten astrophysikalischen Phänomen, das von Wissenschaftlern als Raumbeben bezeichnet wird. Auf allen Planeten und Monden von New Eden kam es zu zum Teil folgenschweren Erdbeben. Leider kann man ... ja?"
Er legte den Kopf etwas schräg.
"Ja ... Meine Damen und Herren ich höre soeben, dass Peter Scholl wieder in der Leitung ist. Ich gebe noch einmal ab zu Peter Scholl an Bord eines Passagierraumschiffes, das zur Erde springen wollte. Peter, hören Sie mich?"
Das Bild wechselte. Wieder war die Passagierkabine zu sehen, die jetzt aber von einem hellen Licht erfüllt war, das langsam alle Farbschattierungen durchlief.
"Ja, Robert, ich höre sie einigermaßen. Wir sind auf dem Abflug vom Sprungtor zurück zur Raumstation. Wegen der steigenden Strahlungswerte und der Instabilitäten der Raumstruktur wurden alle Transfers abgesagt. Vor der Rückschaltung möchte ich Ihnen noch ein Bild von EVE übermitteln. Ich richte die Kamera jetzt nach außen ..."
Das Bild verwischte kurz, zeigte dann wacklig ein Kabinenfenster, auf das der Kameraträger zuging und stabilisierte sich dann mit dem Blick nach außen.
Und was für ein Blick!
Das sonst mattblaue Flimmern im Inneren der gewaltigen Konstruktion, die das natürliche Wurmloch bündelte und stützte, war einem grell-weißen Wabern gewichen, das der Oberfläche einer Sonne ähnelte. Lange Einzeleruptionen und bogenförmige, den Gravitationslinien folgende Energieprotuberanzen schossen, in allen Farben gleißend, in den Weltraum. Hinter dem Sprungtor schien ein kilometerlanger, tiefschwarzer Riss den Raum zu teilen. Energetische Entladungen zuckten immer wieder an seinem Rand entlang oder schlugen, scheinbar aus dem Nichts kommend, in das Bauwerk ein.
Wieder eine riesige Energiefackel - das Bild der Kamera wurde unscharf und die Übertragung brach ab.
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Nach einigen kurzen Interviews, die über den lokalen Fernsehsender verbreitet wurden, war Professor Dr. Roger Coltrane seit zwei Tagen der bekannteste Mann in den Kolonien. Heute war der Leiter des Fachbereichs Astronomie / Astrophysik der Außenstelle der Terranischen Akademie der Wissenschaften auf New Eden zu einem Vortrag zur Situation in das Gebäude der Bezirksregierung gebeten worden.
Die Delegierten der Kolonie sowie die Abgesandten kleinerer Neugründungen hatten zwei Stunden dem Vortrag zugehört, der Ihnen zunächst die Natur eines Raum-Zeit-Gefüges und eines Wurmlochs erläutern sollte.
"Und Sie sind sich Ihrer Prognose der Potentialüberladung sicher, Herr Professor?" lautete die zuletzt gestellte Frage.
"Leider ja. Wir haben an der Akademie in der Nacht zu heute eine Simulation mit allen uns bekannten Daten von EVE mehrfach durchlaufen lassen. Das Ergebnis ist leider, auch bei Verwendung optimistischer Grundannahmen, immer gleich.
Auf der mehrdimensionalen Verbindungsstrecke zwischen den beiden EVE-Toren hat es eine für uns nicht berechenbare Dimensionsverschiebung gegeben. Das einzige, was wir davon wahrnehmen, sind die ständigen Energietransfers aus diesem übergeordneten Raum in unser Raum-Zeit-Gefüge, quasi ein Potentialausgleich. Wie wir inzwischen eindeutig belegen können, ist dieser Ort des Universums die Energiesenke. Das Portal in diesem Sonnensystems wird aufgeladen, meine Damen und Herren, und zwar über seine Kapazität hinaus."
"Und was bedeutet das," fragte der terranische Gouverneur.
"Nun, bleiben wir bei dem Erklärungsmodell eines Wurmlochs wie ein Schlauch. Die energetisch-mehrdimensionalen Variablen des Raum-Zeit-Kontinuums haben dazu geführt, dass das Wurmloch an einer definierten Stelle entstand, zwischen den Umlaufbahnen der Planeten 7 und 8. Bei weiterer Energiezufuhr wird dieser Schlauch quasi vom Sprungtor abreißen und wie ein Hochdruckschlauch hin und her schlagen; solange, bis der Energieausgleich soweit hergestellt ist, dass die Torkonstruktion wieder Anschluss findet und die Restenergie quasi wie durch einen Auspuff abfließen kann.
Meine Damen und Herren, da zur Zeit die Energiemengen, die von EVE ausgestoßen werden, weiter steigen, kann ich nur empfehlen - und zwar dringend und mit allem Nachdruck - dieses Sonnensystem sofort zu räumen, denn wir kennen die Abrissgrenze nicht - um beim Bild zu bleiben. Und der Abriss wird mit 100%iger Sicherheit stattfinden.
Das Höchstgravitationsfeld am Maul des Wurmlochs wird sich ohne Vorwarnung um Millionen Kilometer in eine nicht vorhersagbare Richtung bewegen, wie besagtes Schlauchende. Trifft es einen Planeten, wird es ihn günstigstenfalls aus der Bahn werfen, schlimmstenfalls - bei einer Konkretisierung im Planeteninneren - wird es ihn in Stücke reißen.
Mein Damen und Herren, evakuieren Sie dieses Sonnensystem, lieber gestern als heute. Und das meine ich wörtlich.
Ach ja, da wäre noch etwas, meine Damen und Herrn - beten Sie, dass das wandernde Wurmloch keinen Anschluss findet an die Raum-Zeit-Ausbuchtung, die durch die Sonne hervorgerufen wird."
Bestürztes Gemurmel, lautes Reden und Zwischenrufe setzte im Saal ein. Der Sitzungspräsident musste mehrfach um Ruhe bitten.
Noch einmal meldete sich der terranische Gouverneur zu Wort:
"Herr Professor Coltrane - nach dem Abriss, wann wird EVE wieder funktionieren? Ich meine, wie lange wird es dauern, bis wir wieder mit der Erde Kontakt haben?"
Schwer stütze sich Professor Dr. Coltrane auf das Rednerpult.
"Ich habe diese Frage befürchtet.
Meine Damen und Herren, auch das haben wir - mangels Erfahrung mit mehreren heuristischen Algorithmen - versucht zu berechnen."
Er blickte in die Runde und sah die Hoffnung in den Gesichtern einiger Abgeordneter. Professor Dr. Coltrane räusperte sich bevor er fortfuhr:
"Zwischen dreitausend und sechstausend Jahren wird die ortsvariable Manifestation des Höchstgravitationsfeldes dieses Sonnensystem und seine Umgebung verwüsten, bevor ein Connex mit dem stabilisierenden Sprungtor erneut hergestellt werden kann.
Weitere circa zehntausend bis fünfzehntausend Jahre wird die Restenergie der übergeordneten Raumdimensionen abfließen.
Herr Gouverneur, sie können also frühestens in dreizehntausend Jahren ihrem Nachfolger die Hand schütteln!"
Sekundenlanges Schweigen.
Dann eine frenetische Stimme:
"Das ist die Strafe Gottes, ihr Frevler."
Ein Abgeordneter der Wahren Kirche des Ewigen Herrn stand auf seinem Sessel und fuchtelte wild mit den Armen.
"Ihr habt das Werk des Herrn für ruchlosen Profit missbraucht. Der Herr wird Euch ... "
Die Worte des Abgeordneten gingen im Tumult unter, der nun im Sitzungssaal ausbrach. Jeder versuchte, das Gespräch seines Nachbarn zu übertönen. Einige Pressevertreter sprachen hastig in Kameras, andere redeten in Kommunikatoren, wieder andere hatten kleine Terminals aufgebaut und schrieben einen Livekommentar.
Mehrere Abgeordnete saßen regungslos, mit leerem Blick auf ihren Plätzen.
Der terranische Gouverneur war in sich zusammengesunken und schien ein Selbstgespräch zu führen: "Das ist das Ende," murmelte er immer wieder, "das Ende."
Mit hängenden Schultern, ging Professor Dr. Coltrane vom Rednerpult. Seine Sekretärin reichte ihm ein Glas Mineralwasser.
"Danke, Madelaine," sagte der Professor und blickte sie an.
Sie hatte Tränen in den Augen.
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Die Katastrophe war von einem Ausmaß, wie man es in der Geschichte der Menschheit bisher nicht gekannt hatte. Die Bevölkerung von EVE, einem Teil des Universums, der keine Verbindung zur Milchstraße hatte, konnte durchaus als eine geschlossene Population betrachtet werden. Erstmals drohte einer kompletten Population der Spezies Mensch die völlige Ausrottung.
Die gesamte Ökologie und Infrastruktur der Kolonien waren auf eine funktionierende Verbindung zur Milchstraße ausgerichtet. Es rächte sich bitter, dass Politiker, die eine stärke Autonomie und vor allem Autarkie der Kolonie gefordert hatten, als Separatisten beschimpft und verunglimpft worden waren. Man hatte völlig ignoriert, dass das Wurmloch durch eine Laune der Natur entstanden war und genau so zufällig wieder verschwinden konnte. Die Warnungen seriöser Wissenschaftler waren in den Wind geschlagen oder mit Hinweis auf finanzielle Engpässe zurückgewiesen worden.
Für die ehemalige terranische Kolonie EVE brach eine Zeit der Dunkelheit an ...
* * * ENDE * * *
© Johannes Zumbansen
aka: JohnBe (2001-2007)