EVE - Die Entdeckung

Index zurück weiter

7703 n.Chr., 15533 Jahre vor EST 1


"Das entschädigt für so manche Mühe!"
Grissom, Erster Offizier der TEC-Voyager, lehnte sich zurück und genoss das Bild, das der große Panorama-Bildschirm der Zentrale wiedergab. Vor ihnen schwebte ein weißblauer Planet im Weltraum. Unter den Wolkenwirbeln zeichneten sich die Konturen zweier Kontinente ab. Rechts hinter dem Planeten standen die Sicheln zweier Monde.

"Ja, da haben Sie Recht," stimmte ihm Chaffee bei, der Kommandant der TEC-Voyager bei dieser ausgedehnten Forschungsreise im Auftrag des "Terranian Exploration Corps".
"Sieht nach einem Siedlungsplaneten aus. White," wandte er sich an den Astrogator, "berechnen sie einen Orbitalkurs um den Planeten, das sehen wir uns näher an."

"Yes, Sir," erwiderte White mit breitem Grinsen, "Oh Mann, ich kann die Prämie schon klimpern hören."

Grissom und Chaffee wechselten, ebenfalls lächelnd, einen kurzen Blick.
"Ja, " nickte Chaffee, "wenn das Baby da vorne bewohnbar ist, sind wir gemachte Leute."

Das Terranian Exploration Corps, kurz als TEC bezeichnet, erforschte im Auftrag der Vereinten Nationen den Weltraum vom Sonnensystem ausgehen kugelförmig nach besiedelbaren Planten ab. Längst war die Erde zu klein geworden für mehrere Milliarden Menschen, hatten erste Besiedelungen von Planeten in der Nähe des Sonnensystems stattgefunden, durcheilten Raumschiffe mit Sprungtriebwerken das Weltall.

Die Menschheit war im Umbruch. Sie war auf dem Weg, sich den Weg ins Universum zu bahnen ...


==========



Einige Millionen Meilen entfernt kartographierte die TEC-Hermit den Raum. Sie hatte im Laufe der letzten Monate leider nur unbewohnbare Systeme erkundet, aber dabei eine Menge abbauwürdiger Erzvorkommen entdeckt, die sie nach den gültigen Explorationsgesetzen für die TEC registriert hatte.

Jetzt - im freien Raum und mit Höchstfahrt dem nächsten System zueilend, herrschte vor allem in den nicht-nautischen Abteilungen reger Betrieb. Die Daten der letzen Systemexploration wurden aufgearbeitet: Astrogeologen stellten Effizienzberechnungen für die Erzgewinnung auf, Produktionsingenieure entwarfen erste Pläne für die optimalen Standorte von Raffinerien und neue Standorte der weiterverarbeitenden Industrie. Auch erste Finanzansätze wurden erwogen, um dem Auftraggeber Vorstellungen von der Größenordnung neuer Projekte vermitteln zu können. Eine schwierige Kalkulation, insbesondere wegen der fehlenden Siedlungsmöglichkeiten.

Als auf der ComKonsole - links oben auf dem Instrumentenpult des Kommandanten - das Rufsignal ertönte und das Symbol der astrophysikalischen Abteilung angezeigt wurde, zog Raoul Walsh erstaunt die Augenbrauen hoch.

"Ja, hier Kommandant," meldete er sich und tastete die Bildverbindung ein.

"Astrophysik, Dr. Bergen," meldete sich der Leiter des astrophysikalischen Dienstes.

"Guten Tag Dr. Bergen, was kann ich für Sie tun," fragte Walsh.

"Das Schiff stoppen. Halten Sie das Schiff an."

Raoul Walsh beugte sich leicht vor:
"Das Schiff anhalten? Wir sind froh, wenn wir das nächste System erreichen und endlich mal wieder festen Boden unter den Füßen haben."

"Ich weiß nicht, ob Sie froh sind, wenn wir das nächste System erreichen. Stoppen Sie bitte das Schiff - ach ja - und schalten Sie alle Energieerzeuger und Stromflüsse ab. Ich möchte eine Stunde Notbetrieb des Schiffes."

"Sie möchten ... ?! Wissen Sie, was Sie da verlangen, Doktor Bergen?"

"Ja - ich verlange eine Stunde Emissionsstille. Unsere Messungen zeigen ein seltsames Phänomen vor uns an. Es scheint in dem System vor uns zu liegen. Da stimmt was nicht."

Raoul Walsh wurde aufmerksam:
"Sie haben ein physikalisches Problem mit dem System, das wir ansteuern?"

"Ja, Kommandant. Und nicht nur ich. Mein ganzes Team und ... he, passen Sie doch auf!"
Dr. Bergen wurde offenbar zu Seite gedrängt. Der kahle Kopf des neu zur Crew versetzten Chefastronomen leuchtete vom Bildschirm:
"Wir auch, Kommandant ... Garner, Astronomie, wir haben auch ein Problem mit dem System. Ich bin auch für anhalten und prüfen. Bis dann."
Der Kahlkopf verschwand wieder und ein kopfschüttelnder Dr. Bergen war zu sehen.
"Ein unmöglicher Mensch, dieser Dr. Garner."

"Also, die Weißkittel haben Probleme. Na gut, sie sollen ihren Willen haben. In 15 Minuten steht das Schiff, in 30 Minuten beginnt der Notbetrieb. Ich gebe Ihnen eine Stunde, dann fliegen wir weiter, Ende."


==========



"Sehen Sie hier, Kommandant, das nächste Bild. Die Aufnahme wurde im Spektralbereich des sichtbaren Lichts gemacht." Auf dem Display im Besprechungsraum der TEC-Hermit wechselte die Abbildung.
"Wir haben so etwas noch nie gesehen. Diese Filamente scheinen energetischer Natur zu sein. Obwohl sie eindeutig auch elektromagnetische Wellen im Bereich des sichtbaren Lichts abgeben, fehlen jegliche Absorptionslinien."

Raoul Walsh betrachtete das Bild. Es erinnerte ihn an eine stark elliptische Version eines Fotos des Crab-Nebels. Ein Ringnebel aus Gas und Staub um ein ziemlich leeres Zentralgebiet - und um eine zentrale Sonne. Allerdings...
"Dr. Bergen - sie sagen keine Spektrallinien? Also kein Gasring? Reine Energie?"

"Richtig Kommandant. Und ... schauen Sie sich das Zentrum an - sehen sie eine zentrale Sonne?"

Raoul Walsh betrachtete die Projektion genauer. In Zentrum war nicht besonderes zu sehen. Genauer gesagt - im Zentrumsbereich war gar nichts zu sehen, nicht einmal Hintergrundsterne.

"Nein - ich sehe keine Zentralsonne. Da ist irgendwie ... nichts."

Dr. Garner, leitender Astronom an Bord, sprang erregt auf.
"Richtig, da ist nichts. Das Ding kann zudem aus mehreren Gründen kein Überbleibsel einer Nova-Explosion sein: erstens gibt es absolut keinerlei Absorptionslinie, zweitens hätte der Nova-Ausbruch einer Sonne den Doppelstern vermutlich schwer beschädigt sowie die Planeten weggerissen. Aber davon ganz abgesehen: seit wann kreist eine Trabant- Sonne auf der Bahn des achten Planeten?"

Auch Dr. Bergen meldete sich erneut zu Wort:
"Vom Ort dieses Phänomens geht eine relativ intensive Strahlung aus. Zudem scheint es eine superstarke Gravitations-Anomalie zu sein. Wir glauben, eine Ablenkung des Lichtes gemessen zu haben."

Dr. Garner fuhr dazwischen:
"Ausgeschlossen. Eine Energiewolke kann niemals genug Masse in sich vereinen, um Licht umzulenken."

"Es IST ja keine Energiewolke, verehrter Kollege."

"Keine Ener ... hah! Was dann?"

"Ich habe da eine Vermutung, und wenn sie sich bewahrheitet, wäre es phantastisch. Kommandant, ich beantrage, das System weiterhin anzufliegen. Aber hüten Sie sich, dem Wurmloch näher als eine Million Kilometer zu kommen."

"Dem Wurm...?"
Kommandant und leitender Astronom sahen den Astrophysiker fragend an.
"Pah", meinte Dr. Garner, "über diese Dinger wird schon seit Jahrhunderten phantasiert - nur gesehen hat sie noch niemand."

"Wir, Kollege Garner, werden die Ersten sein, verlassen sie sich drauf. Und ... Dr. Garner ...?!"

"Ich muss das durchrechnen, keine Zeit," hörte man den davon stürmenden Astronomen vom Gang her rufen.

"So ein ungehobelter Kerl," wandte sich Dr. Bergen an den Kommandanten, "also noch einmal: lassen Sie uns das System erkunden. Aber halten Sie einen Sicherheitsabstand zu diesem ... diesem ... ich bleibe dabei: Wurmloch."


==========



Kommandant Raoul Walsh hielt sich an die Empfehlung der Wissenschaftler. Während ständig die aktuellen astrophysikalischen Daten gemessen und archiviert wurden, hatte die TEC-Hermit nach wenigen Tagen das System mit der Raum-Anomalie erreicht.

Zwischen den Bahnen des siebten und achten Planeten, etwa eine Million Kilometer "oberhalb" der Bahnebene der Planeten, stand das Energiegebilde unbeweglich im Raum.

Während einer ersten Umkreisung hatten die wildesten Gerüchte an Bord die Runde gemacht. Sie reichten von einem Energiewesen, über einen kondensierten Sonnenwind bis zum Wurmloch, letzteres von den Wissenschaftlern an Bord bevorzugt.

Inzwischen lagen erste konkrete Auswertungen und Bilddokumente vor.
Von "vorn" betrachtet, der Richtung aus der die TEC-Hermit angeflogen war, sah das Energiegebilde tatsächlich aus wie ein elliptischer Nebel mit starken Schlieren am Rand. Von der Seite gesehen, waren die Konturen nicht so klar auszumachen.
Raoul Walsh erinnerte das Gebilde - seitlich betrachtet - an eine Blüte mit halb-durchsichtigem Kelch: An der Spitze die klar auszumachenden Energiefilamente und dahinter eine Zone wie ein Abschnitt heißer Luft hinter einem Triebwerk - eine Zone, in der die unglaubliche Gravitation der Raumausstülpung noch wirksam war und das Licht der Sterne, das durch sie hindurch ging, ständig verwarf, sodass eine Art Schlierenzone entstand.

Am zweiten Tag meldete sich Dr. Bergen bei Raoul Walsh:
"Kommandant, meine Abteilung hat einen Vorschlag für die Fortführung der Forschung erarbeitet, den wir Ihnen gerne vorstellen möchten. Können Sie heute noch zu uns herüberkommen?"

"Selbstverständlich, Dr. Bergen. Wenn es recht ist, komme ich sofort," erwiderte Walsh.

"Gerne, Kommandant, wir sind soweit," sagte Dr. Bergen und unterbrach die Verbindung.

Raoul Walsh übergab das Kommando an den I.O. und machte sich auf den Weg, um sich den Vorschlag der astrophysikalischen Abteilung anzuhören.


==========



Man hätte die sprichwörtliche Nadel fallen hören können. Im Besprechungsraum der TEC-Hermit herrschte atemlose Stille. Alle Offiziere und Wissenschaftler - auch die der Freiwache - hatten sich eingefunden, um dem Ereignis beizuwohnen.

Vor 30 Minuten hatte die TEC-Hermit eine gepanzerte Sonde in Richtung auf das Wurmloch gestartet. Eigentlich diente dieser Bautyp nur der Erforschung der Hochdruck-Atmosphäre von Gasplaneten. Wenn die Berechnungen der Astrophysiker stimmten, dann bildete das vor ihnen liegende, natürliche Wurmloch eine Art Schlauch mit einem variablen Durchmesser, in dessen Innerem im Gegensatz zu einem schwarzen Loch Materie nicht endlos komprimiert, sondern quasi in Nullzeit ortsversetzt würde. Über den Durchmesser dieser Transportzone konnte man nichts aussagen.
"Sonde vor Durchgang," meldete der Bordcomputer.

Auf dem großen Bildschirm zeigte das Kamerabild einer Beobachtungssonde die Sonde vor dem riesigen, absolut schwarzen Zentralbereich des Wurmlochs. Daneben ein kleines Bild, eine Kamerasicht aus der Drohne heraus. Sie zeigte nichts - obwohl die einfallende Feldstärke 100% betrug, wie ein kleines Messinstrument anzeigte.

Mit hoher Beschleunigung jagte die Sonde auf den Ereignishorizont des Wurmlochs zu.
Ein Raunen ging durch den Raum. Die Observationskamera der Sonde zeigte plötzlich Strukturen - ein in die Unendlichkeit reichender, drehender Zylinder ... und AUS.

"Durchgang," vermerkte der Bordcomputer.

"Wo ist die Sonde, was macht sie," fragte Dr. Garner den neben ihm stehenden Dr. Bergen.

"Wenn sie noch intakt ist, fliegt sie geradeaus und bestimmt ihren Flugvektor bezogen auf die Längsachse. Dann macht sie Aufnahmen der Umgebung und dann, Herr Kollege," Dr. Bergen sah den Astronomen an, "dann versucht sie auf einem 180-Grad Gegenkurs zurückzukommen."

"Hmm," brummte Dr. Garner, strich sich über die Glatze und wandte sich wieder dem jetzt leeren Bildschirm zu.

Die Minuten verstrichen.

"Computer, Frage Zeit seit Durchgang", sagte Raoul Walsh.

"Durchgang plus 10 Minuten," meldete der Computer.

Die Zeit schlich dahin ...
Unruhe machte sich breit.

"Computer, Frage Zeit seit Durchgang", sagte Raoul Walsh.

"Durchgang plus 30 Minuten," lautete die Auskunft.

Walsh schaute in die Runde.
"Tja ... das Experiment ist anscheinend fehlgeschlagen, meine Damen und Herren. Science Fiction ist und bleibt Science Fiction. Ich danke Ihnen allen trotzdem. Sie haben der Wissenschaft zu einer unglaublichen Entdeckung verholfen. Wir bleiben für weitere Messungen und Analysen noch 2 Tage in diesem System. Anschließend fliegen wir nonstop zurück zur Erde.
Die Sitzung ist hiermit beendet."

Der Kommandant stand auf und wandte sich zur Tür.

In diesem Augenblick schrie jemand vor ihm förmlich auf, rannte einfach los und rempelte ihn zur Seite:
"DA IST SIE! DA IST DIE SONDE! SIE IST WIEDER DA!"
Wie ein Derwisch hüpfte Dr. Garner vor dem Bildschirm herum, der schüttere Haarkranz tanzte auf und ab. Er drehte sich um:
"SEHT HER: SIE - IST - WIEDER - DA!"

Erregte Gespräche brandeten auf, dann brach Beifall aus.

"Ich hab´s gewusst, " sagte Dr. Bergen mit Tränen in den Augen, "ich hab´s doch gewusst." Er zog ein Tuch aus der Tasche, wischte sich die Tränen ab und schnäuzte sich kräftig die Nase.

Die versammelten Menschen schüttelten einander die Hände, klopften den Astronomen auf die Schulter und umarmten einander.

Aber noch einmal fuhr Dr. Garner dazwischen:
"RUHE - RUHE BITTE. Funkraum - rufen sie die Aufnahmen ab. NUN SEID DOCH MAL STILL."

Einige waren aufmerksam geworden und schauten auf den Bildschirm.
Dann blendete das Bild der Observationskamera von Bild-In-Bild Darstellung auf Vollbild um.
Inzwischen schauten alle zum Bildschirm - und zum zweitenmal in dieser Stunde trat eine atemlose Stille ein.

Das Bild zeigte kurz die wirbelnde Trichterstruktur des Einsprunges - dann nichts mehr. Leichte Unruhe kam auf. Dann - ein Störbild - nur wirbelnde weiße und schwarze Punkte.
"Kalibrierung - die Strahlung oder so was," flüsterte Dr. Bergen.

Dann kam das Bild: Dunkler Hintergrund - Sterne und ...

"Ein Planet - mein Gott - auf der anderen Seite ist ein System mit einem Planeten," rief jemand.

In der rechten Bildhälfte schwebte ein blaugrüne Halbkugel vor dem Hintergrund des Sternhimmels. Man sah Wolkenformationen und an den klaren Stellen Kontinente und Inseln. Ein Stromsystem inmitten eines dunkelgrünen Flecks erinnerte an den Amazonas oder Kongo. Sogar das vorgelagerte Delta war unverkennbar. Grün dominierte die weiten Flächen.

"Ein Paradies," murmelte Kommandant Walsh, "der Garten Eden."

... Fortsetzung folgt ...

© Johannes Zumbansen
aka: JohnBe (2001-2007)