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Von der Steilwand im Hintergrund der weiten Lichtung fiel ein rauschender Wasserfall glitzernd über den ausgewaschenen oberen Rand in einen kleinen Urwaldteich, der nach vorne hin in einen kleinen Bach mündete. Am linken Ufer war ein Mangrovenwald und auf dem gegenüberliegenden, flachen Sandstrand dösten zwei große Panzerechsen.
Laut kreischend tobte eine Gruppe Brüllbeutler durch die hohen Baumwipfel. Ein Schwarm blaurote Jakomos flatterten unter protestierendem Krächzen auf und ein Hängesegler verlor den Halt seines Ausgucks und platschte ins Wasser. Interessiert, aber träge blinzelte eine Panzerechse in Richtung des unfreiwilligen Schwimmers.

Auf das bisher reglose, fast besorgte Gesicht des Zuschauers stahl sich ein Lächeln. Er blickte den bunten Tropenvögeln nach, die einen weiten Kreis unter der Armoplastkuppel zogen, die das Paradies von der Weltraumkälte trennte und sich wieder ihrem Ruhebaum näherten. Langsam spazierte der leicht gekleidete Besucher über den Holzsteg, der den Bach überspannte, und wandte sich in Richtung der Nachbildung einer Eingeborenensiedlung.
Zwei kleine Hütten, die Wände aus Bastmatten und eine Rattansitzgruppe davor - der richtige Ort, um sich von schwierigen Tagesgeschäften ablenken zu lassen.


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Von hier oben waren Teile des tropischen Gartens gut zu überblicken. Der Wasserfall, der kaum einen Meter neben ihr in die Tiefe rauschte, bildete eine ideale Geräuschtarnung. Behutsam schob die gertenschlanke Frau im schwarzen Overall die Mündung des Präzisionsgewehrs über den Klippenrand. Langsam drehte sie die bisher flach gehaltene Waffe in die Senkrechte. Sanft, beinahe zärtlich schmiegte sie die rechte Wange auf die Schulterstütze und zog die Waffe in die Schulter. Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs folgte dem Mann, der ihr den Rücken zuwandte und sich in einen Korbsessel vor der Bambushütte setzte. Eine Umrandungsmauer verdeckte den Körper ab der Schulter, aber der Kopf war frei - ein perfektes Ziel für ein Keramikfragmentationsgeschoss.


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Wie die zoologischen Gärten der unvergessenen Erde, bauen besonders die Gallente auf ihren Urlaubsstationen phantasievolle Tropenhäuser, in deren weiten Hallen geradezu paradiesische Biotope existieren. Die Farbenpracht tropischer Blüten, die tausende Schattierungen von Grün und die ungewohnte Klangwelt eines tropischen Gartens mit einer in - relativer - Freiheit lebenden Tierpopulation faszinieren die Menschen seit Generationen und auch Obstel war da keine Ausnahme.
Der Chefdiplomat der X-Trading Company hatte einen schwierigen Tag mit Waffenstillstandsverhandlungen vor sich und nutzte den frühen Morgen für einen ungestörten Naturspaziergang. Urlauber waren zu dieser Zeit noch nicht unterwegs.

Nachdem die Company mehrere Tage in einem bis dahin herrenlosen System des Sicherheitslevels 0.0 Bergbau betrieben hatte, war eine Gesellschaft namens ZeroImpact aufgetaucht und beanspruchte - Kraft eigener Willkür - nicht nur das System, sondern die gesamte Konstellation für sich. Es war zu heftigen Schusswechseln gekommen, die die Nachschublinie der X-Trading Company dank einer Vielzahl eigener Munitions-Blaupausen allerdings kaum belasteten. Sichtungen von schnellen Handelskreuzern des Intaki-Syndikates wiesen aber daraufhin, dass Waffenhändler des Syndikats Profit aus den Scharmützeln schlagen wollten und mit den Konstellationsbesetzern in Verbindung standen.

Obstel blickte gedankenverloren einem mittelgroßen Perlhuhn nach, das zu seinen Füssen an der Mauer der Veranda entlangstolzierte und nach heruntergefallenen Essensresten pickte. Obstel lächelte und holte einen Knabberriegel aus der Brusttasche seines Hemdes.

"Hier - du Huhn," sagte er und warf mit einer schwungvollen Handbewegung ein abgebrochenes Stück in Richtung des Tiers.

Das gackerte erschreckt auf, flatterte mit laut klatschenden Flügeln auf die Mauer - und explodierte keine Sekunde später in einer Wolke aus Federn, Fleischfetzen und Blut.

"Öha," entfuhr es Obstel und mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen blickte er erst auf den Müsliriegel - dann auf die verschmierte Mauer, seine mit Blut und Resten des Tierkadavers verunzierten Unterarme - und ließ sich fallen.

Schon fetzte das nächste Geschoss durch die Bambusmatte, die die Wand der Hütte vor ihm bildete. Obstel wartete mit verkrampften Muskeln auf den tödlichen Splitterregen, aber das Geschoss war nicht auf der dünnen Matte, sondern erst auf dem Hüttenboden explodiert. Einen Schuss hatte er nicht gehört.

Obstels Gedanken rasten.
- wenn der unsichtbare Gegner ein Profi war - worauf Keramikexplosivgeschosse und Schalldämpfer schließen ließen - hatte er in seiner exponierten Lage keine Chance zu entkommen
- und warum wollte man ihn tot sehen, Diplomaten genossen allgemein respektierte Immunität
- sollte ZeroImpact... nein, dann wären sie im gesamten imperialen Raum geächtet
- oder vielleicht ...


Mit hässlichem Sirren rauschten die nächsten Keramiksplitter über ihn hinweg und rissen ihn aus seinen Gedanken. Blattreste taumelten auf ihn herab. Obstel grinste verzerrt. Das Geschoss war auf der Mauer explodiert und er lag im totem Winkel. Der Attentäter hatte wohl mit einem todsicheren ersten Schuss gerechnet.

"Falsch gedacht", murmelte Obstel und wartete auf die nächste Kugel. Eine, zwei, fünf endlose Minuten.

Nichts.

Beunruhigt musterte Obstel die nähere Umgebung - soweit er sich traute, den Kopf zu heben.

Auch nichts.

"Na was denn," brummte er, "wo steckst du Saubär?"

Ein plötzlich Ausbruch der Brüllbeutler in ein wildes Gekreische machte Obstel aufmerksam. Vorsichtig lugte er um die Mauerecke. Die affenähnlichen Tiere warfen mit Stöcken und Früchten in Richtung Decke. Obstel blickte hoch.
Der Sonnenstrahler auf seiner halbkreisförmigen Umlaufschiene stand noch sehr tief, sodass man am Kuppelrand besonders helle Sterne erkennen konnte und - unzweifelhaft ein Raumschiff. Verschwommen zwar, aber anhand der Triebwerke klar als solches zu identifizieren.

Gerade gestartet, und direkt vom Hangar neben der Exotenkuppel", dachte Obstel, "mit Sicherheit eine schnelle Privatyacht."
Er schaute noch einmal in Richtung des flüchtenden Schiffes und erstarrte. Eine zweite, fast genauso helle Leuchterscheinung hatte sich von dem Raumschiff gelöst und steuerte die Kuppel an.

"Zu deutlich für einen Raketenantrieb" durchfuhr es Obstel, "eine Kampfdrohne".
Er sprang auf. Der Haupteingang - zu weit - keine Chance, ihn vor dem Einschlag der mit Sicherheit mit einer Schlagladung verstärkten Drohne zu erreichen.

"Notausgänge - hier muss es Notausgänge und Schleusen geben!". Obstel warf sich herum. Hinter den beiden Häusern konnte man deutlich die verblendete Grundkonstruktion der Armoplastkuppel ausmachen.
Er rannte los. Zwischen den Häusern hindurch - der Weg zuende, nur noch ein Pfad auf lockerem, nassen Boden. Rechtsknick - Obstel rutschen die Füße weg - der weiche Boden bremste seinen Sturz - wie ein Sprinter kam er auf allen vieren wieder hoch und spurtete rutschend wieder los - noch einmal linksherum - und die starken Plastikwände lagen vor ihm.

Ein gehetzter Blick nach links und rechts: ein grünes Leuchtfeld - Notausgang, sinnlos. Aber rechts - 50 Meter vor ihm - ein intensiv blaues Signalfeld - Notschleuse.

Eine donnernde Explosion am Dom der Kuppel ihm ließ Obstel Deckung suchen.
"Fehler - verdammt ... hoch ... weiter", durchzuckte es ihn im gleichen Moment.
Ein berstendes Knirschen und Krachen durchlief die Kuppel, Obstel hörte die Strukturbrüche durch das Armorplast über sich laufen. Wieder riss er sich förmlich hoch.

Nach weniger als einer Sekunde wurde das Knisten und Splittern von einem anderen, tödlichen Geräusch abgelöst: mit hohlem Brausen, unheimlich jaulend und sich zu einem röhrenden Tosen steigernd, fauchte die Atmosphäre hinaus ins All. Ein Crescendo des Todes, in das sich die Sirenen des Druckalarms und die Schreie der hochgerissene Tiere mischten.

Obstels kam nur wenige Schritte ungeschoren davon. Zu groß war das durch die Detonation gerissene Loch. Der Luftdruck fiel rasant, der Sturm der entweichenden Atmosphäre versuchte ihn mit sich zu reißen.
Vierzig Meter - 7 Sekunden - Obstels Puls hämmerte, die Lungen keuchten - seine Wahrnehmung war auf die blaue Leuchttafel und die leuchtorangefarbene Warnlampe zusammengeschrumpft, die Arbeits- aber auch Verschlussbereitschaft! - signalisierte.
Ein Schritt noch - rote Schleier im Gesichtsfeld - wo ist die Kontaktplatte? - der Mensch Obstel schluchzt beinahe vor Verzweiflung - die Knie werden weich - DA! - und zischend fährt die Tür zur Seite, gibt die Schleuse frei - Haltegitter, die aus der Erfahrung vergangener Unfälle angebracht waren - eine letzte Gewaltanstrengung und Obstel rollte in die Schleuse.
Hinter ihm schloss die Automatik die Schleusentüren und pumpte nach einigen Sekunden die Überdruckdichtungen auf. Ab einem bestimmten Unterdruck wurde unwiderruflich der Verschlusszustand hergestellt.

Obstel hatte es gerade noch geschafft.


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"Ich werde noch 2 Tage hier abwarten, im Bereitschaftsmodus des Schiffes kann ich den Tarnschirm solange aufrecht erhalten. Ich bin es gewohnt, nichts dem Zufall zu überlassen. Und ich kann Ihnen nur raten, das Schlachtschiff in Sprungbereitschaft zu halten, bis sein Tod offiziell bestätigt wird."

Selbst von einem Monitor aus schienen Kieras eisgraue Augen den Waffenhändler zu fixieren. Solange sie in der Pilotenkapsel schwebte, verwendete der Bordcomputer ein vorher gerendertes Bild von ihr und veränderte die Mimik der Grafik anhand der gemessenen Emotionen und im Moment registrierte er nichts als Bestimmtheit und Ablehnung.

Der Sektionsleiter des Syndikats nickte.
"Ok - Sie sind der ... ähh ... Fachmann. Die SYNDICATE PROUD bleibt 48 Stunden auf Voralarm. Nach bestätigtem Vollzug erhalten Sie den Rest der Summe."

"Davon gehe ich aus, Mister."
Kieras Avatar deutete weniger als ein Lächeln an und die Verbindung wurde unterbrochen.


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"Warpdrive activated"

Obstel überprüfte die Bordsysteme und beobachtete, wie die Station mit der zerstörten Exotenkuppel hinter ihm zurückfiel. Nach einem fast 20stündigen Heilschlaf hatte ihn die Medizinische Abteilung wieder entlassen. Er hatte keine Verletzungen zurückbehalten.

"Allerdings sind die Friedensverhandlungen geplatzt", dachte er. "Eigentlich es gibt nur eine Gruppe, die richtig davon profitiert - die Waffenhändler, die wir seit einigen Tagen beobachtet haben. Da kommen schwere Tage auf die DEFENSE-Abteilung zu".

Zwei Minuten später begann die XT-Indy zu verzögern. Die Rot- und Blauverschiebungen des umgebenden Weltraums gingen zurück.

"Approaching stargate"

"25 Kilometer", stellte Obstel fest. "Die Gravitationskondensatoren müssen nachjustiert werden und bei der Gelegenheit kann Tiegos auch ... was ...? Oh nein ...!".

Stotternd setzte der Antrieb aus und ein Flimmern lief über das Radar.
Ein turmdicker Energiestrahl verfehlte die XT-Indy nur um wenige hundert Meter. Gleichzeitig meldete sich die Raketenerfassung und ein rotes Signal erschien im Nahbereich auf dem Radar. Ein Raumschiff hatte offenbar unter vollem Tarnschutz nebem dem Sprungtor auf ihn gewartet! Obstel richtete die Kameras aus und zoomte den Gegner heran.

"Eine MEGATHRON, ach du ahnst es nicht!" stöhnte Obstel in Gedanken. Er musterte das in Nachtblau und Schwarz gehaltene Stahlmonster. Keine Hoheitsabzeichen, keine Markierungen. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich.

"Das Syndikat - wir sind einem Waffenhändlerring auf die Füße gestiegen".

Obstel machte sich keine Illusionen über Bewaffnung und elektronische Ausrüstung eines Kampfschiffes der Waffenmafia. Mit einem Gedankenimpuls setzte er den Notrufsender in Betrieb. Dann überstürzten sich die Ereignisse - schneller, als der Diplomat Angst empfinden konnte.

Die zweite Außenkamera übermittelte noch den Beginn eines grellen Lichtblitzes bevor sie verdampfte. Der titanischen Energieentfaltung zweier Hochleistungspartikelstrahler hatte der Energieschirm, die Panzerung und die Hülle der XT-Indy so gut wie nichts entgegenzusetzen.

Die superschnellen Rechner des Brennscanners der Pilotenkapsel ermittelten den bevorstehenden Tod des ihnen anvertrauten Individuums. Jetzt kam es darauf an, dessen Gehirn nicht nur in seinem strukturellen Aufbau, sondern im synaptischen Übertragungszustand binnen Millisekunden aufzunehmen, um möglichst keine Erinnerungen zu verlieren. Die irreparable Zerstörung des Originalgehirns konnte wegen es bevorstehenden Todes in Kauf genommen werden.

Obstel schrie nicht einmal auf, als der Brennscanner mit Brachialgewalt sein Gehirn vermass: der Vorgang war schneller, als die Nervenbahnen Schmerzimpulse hätten leiten können. Die gebundenen Quantenpaare des Brennscanners übermittelten die Informationen in Nullzeit an seine Klonstation.

Obstel würde nicht sterben - ein Klon hoher Qualität war irgendwo im EVE-Universum erwacht. Schon nach wenigen Minuten wird er mehr als eine Zellballung sein, mehr als ein vegetativ funktionierender Kokon: er wird Obstel sein, mit allen Erinnerungen - außer der an seinen Tod.

© Johannes Zumbansen
aka: JohnBe (2001-2007)