Unbändig in seiner Ausbreitung und machtvoll in seinem Ansturm suchte sich der freigewordene Hochenergiefluß seinen Weg. Magnetflaschen luden sich summend auf, Kondensatoren saugten gierig die Energie in sich auf, Spannungswandler transformierten die ohnehin starken Ströme auf Höchstwerte und leiteten sie weiter an riesige Speicherbänke.
Supraleiter wurden vorgekühlt um die gewaltigen Energien schlagartig freisetzen zu können. Der Gravitationsgenerator setzte mit einem Brummton ein und in den Bosonenringspeicher wurde langsam und gleichmäßig die erforderliche Menge Extraktionsplasma geleitet.
Das Sprungtor auf dem 2. Harmoniepunkt der orangefarbenen Doppelsonne bereitete eine gesteuerte Gravitationsüberlastung der Raumzeit vor, um das in Bereitschaft stehende Raumschiff in quasi Nullzeit über Millionen Kilometer zu versetzen.
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"XT-DEFIANT ... bereithalten zum Sprung. Phase Eins beendet ... Phase zwei läuft an", kam die gelangweilte Stimme des Leitenden Sprungkoordinators über die Kom-Verbindung.
"XT-DEFIANT ist bereit," erwiderte Draghi - der Pilot des Kreuzers mit dem Emblem der X-Trading Company - und veranlasste mit einem Gedankenbefehl den Zentralrechner zum Einholen der Kamerasonden.
"Anna - Frage Zustand Besatzung?"
Über die Bildprojektion der Kapsel sah er direkt in die Zentrale. Anna - ein caldarischer Offizier und seit vielen Jahren der erste Offizier des gallentischen Händlers - sass bereits angeschnallt im Sessel des Schiffsführers.
"Alles klar, Draghi. Alle Stationen GRÜN," nickte sie mit einem leichten Lächeln in Richtung Aufnahmeoptik.
"OK - bis später," sagte Draghi und schaltete wieder um auf die Hauptsystemkontrolle.
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Vor Millionen Jahren war die kleine Gruppe Manganatome in das Gitter des Mexallonkristalls eingefügt worden. Nicht alle Bindungselektronen beider Stoffe hatten Äquivalente gefunden und die natürliche Bindung im Kristall wurde durch einen Riß auf Molekularebene gestört. Jeder Sprungvorgang belastete den Gravitationskondensator bis an die Grenzwerte. Und mit der Zeit nagte der mikroskopisch kleine, natürliche Riß an der Bruchfestigkeit des Mexallonkristalls ...
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Der Blick in die Ausläufer des kosmischen Schauspiels einer gesteuerten Dimensionsverzerrung hatte für die Besatzung des Kontrollraums schon lange seine Faszination verloren. Routiniert prüften sie die optischen Kontrollen der Steuercomputer, meldeten die Durchgänge mit Schiffsnamen, Registernummer und Sprungziel an das Zentralarchiv der CONCORD.
Auch die XT-DEFIANT, die im Moment von Traktorstrahlen im Abstrahlpunkt positioniert wurde, war nur ein Schiff unter vielen. Das zwölfte heute und noch sieben weitere hatten sich angemeldet.
Im Leitgitter des Sprungtores baute sich ein diffuses, weißblaues Leuchten auf und trotz der gewaltigen Ausmaße lief ein leichtes Zittern durch durch die Konstruktion.
Vor dem Leitenden Koordinator leuchtete eine neue Grünkontrolle auf. Ohne Hast drückte er die Sprechtaste und beugte sich leicht zum Mikrofon vor:
"XT-DEFIANT ... Phase zwei abgeschlossen ... Übergebe an Automatik."
Der Ingenieur legte einen Steuerschalter um und auf dem grossen Außensichtschirm wurde in orangefarbenen Lettern AUTOMATIK eingeblendet.
Eine Computerstimme fuhr fort: "Abstrahlung in DREI ... ZWO ... EINS ... JETZT".
Das technisch-physalische Wunderwerk begann zu arbeiten. Ein tiefes, hohles Brausen erhob sich in den unteren Stockwerken des Kontrollsegmentes, mischte sich mit dem dumpfen Wummern des Gravitationsgenerators und durchschlug bei Maximalwerten sogar die Schallisolierung des Leitstandes.
In gleißender Rotation baute sich der Schlauch des Wurmlochs auf und reichte der Unendlichkeit die Hand. Da schlug das Unheil zu.
Mit einem Donnerschlag zerbarst im großen Maschinensaal der zweiten Ebene einer der metergroßen Kondensatoren. Panzerplastikteile flogen durch die Luft und scharfkantige Mexallonsplitter fetzten durch die Halle. Ein krachender Entladungsblitz fuhr unkontrolliert in ein unterarmstarkes, orangefarbenes Leiterkabel.
Ein grellrotes Licht blinkte vor dem Leitenden Sprungkontrolleur auf und eine Automatenstimme rief ihr hysterisches "Fehlfunktion - Abruch ... Fehlfunktion - Abbruch" in den Kontrollraum.
Der diensthabende Elektrophysiker rannte schon zur Auswertekonsole. Der Leitende Sprungkoordinator hatte sein Phlegma verloren, war aufgesprungen und starrte vornübergebeugt und auf das Pult gestützt auf den Bildschirm.
Auf das weißblaue Gleißen des Initiierungsfeldes hatte sich an einer Stelle - von der Basis an der Station ausgehend - ein grünlicher Schatten gelegt und sich binnen einer Sekunde bis an den gegenüberliegenden Rand ausgebreitet.
Im gleichen Moment als sich das Wurmloch aufbaute und das in seinem Bosonencoating wartende Raumschiff mitriß, schien das Initiierungsfeld entlang des grüngelben Energieabschattung einzubrechen um sich dann explosionsartig aufzublähen. Seine Ränder berührten das Leitgitter und schlagartig floß die Restenergie in einer Kaskade von Entladungen über die Metallstreben ab.
Das Leuchten des Wurmlochs verging in flirrenden Schlieren.
Maschinen liefen jaulend aus und die Vibrationen verebbten.
Das rote Blinklicht spiegelte sich auf Anzeigen, deren Skalenscheiben und Meßwerte auf den Nullpunkt sanken.
Die ruhige Stimme des diensthabenden Kommunikators drang in das Bewußtsein des Leitenden Sprungkoordinators:
"XT-DEFIANT ... bitte melden, XT-DEFIANT ... melden Sie sich ..."
Die Caldari drehte sich mit dem Sessel um, sah den Schichtführer an und schüttelte leise den Kopf.
Der Leitende Sprungkoordinator wischte sich mit der Hand kurz über das Gesicht. Bleich und entschlossen sagte er:
"Spruch an alle Schiffe auf der Warteliste: Dieses Sprungtor ist geschlossen. Dann Eilmeldung über meine Konsole an CONCORD."
Er räusperte sich:
"Und ... ähmm ... Fragen Sie nach, ob die XT-DEFIANT im Ziel angekommen ist. Und versuchen Sie noch mal, Kontakt aufzunehmen."
"Jawohl, Sir," sagte die junge Frau und wandte sich wieder ihren Geräten zu.
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Draghi schwebte entspannt im dickflüssigen Gel seiner Pilotenkapsel, durch ein automatisch eingespritztes leichtes Sedativum auf den Wurmlochdurchgang vorbereitet. Trotz aller technischen Vollkommenheit wurde die Dimensionsverzerrung während eines Sprunges von den meisten Menschen deutlich und oft als beängstigend - wenn auch schmerzfrei - wahrgenommen.
"... ZWO ... EINS ... JETZT."
Im gleichen Moment glaubte Draghi, sterben zu müssen. Die nanonische Verbindung zur Kapsel brach zusammen und er fiel in eine tiefe Schwärze, die von farbigen und dennoch lichtlosen Blitzen durchzuckt wurde. Eine imaginäre Faust quetschte ihn zusammen - nur um ihn Sekundenbruchteile später wie ein Gummiband zu strecken. Sein ganzer Körper flammte in Schmerz auf und gnädig umfing ihn eine tiefe Bewußtlosigkeit.
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Frühling auf Luminaire.
Im Zentralpark durchflutete das Sonnenlicht die noch kahlen Bäume.
Ein kleiner Bach schlängelte sich durchs Unterholz und umfloß die künstliche Halbinsel, wo Draghi auf einer Bank saß und den einheimischen Tauchvögeln zusah. Das Sonnenlicht spiegelte sich in glitzernden Facetten auf der Wasseroberfläche.
Der Bordcomputer aktivierte die Kapselsensorik.
Nach den vorliegenden Daten war ein Sprungtordurchgang fehlgeschlagen. Die XT-DEFIANT war zwar räumlich versetzt worden, aber wegen des Ausfalls mehrerer Systeme konnte der Bordcomputer nicht feststellen, in welchem Abschnitte des EVE-Universums sich der Öffnungsriß des Wurmlochs befunden hatte.
Schläfrig murmelte das Wasser sein Lied und der leise Singsang der Vögel ermunterte zum Träumen. Ein kleines Grasbüschel schaukelte mit der Strömung den Bach hinunter.
Die Kapselsensorik erhöhte die Adrenalindichte des Bettungsgels und senkte gleichzeitig die Temperatur. Solange keine äußere Gefahr angemessen wurde, konnte sie den Piloten auch nach unvorhergesehene Ereignissen selbständig in einem Rekonvaleszenzschlaf von maximal 4 Stunden halten. Jetzt mußte er geweckt werden.
Draghi´s Wachbewußtsein gewann die Oberhand. In die Frühlingsbilder aus seiner Studienzeit auf Luminaire drängten sich Umgebungsbilder der Kamerasonde. In weitem Halbrund schwang sich ein bunter Asteroidengürtel durch das Sichtfeld. Daten über Geschwindigkeit und Schildstärke drängten sich an die Oberfläche.
Ausfall der Fernortung. Ausfall der Nachbrenner. Ausfall der Besatzung ... Ausfall der Besatzung?
Draghi wurde wach. Der Schmerz ... Instinktiv verkrampfte er sich in Erwartung der Schmerzlawine, die ihn einfach überrollen und hinwegfegen würde ... und entspannte sich allmählich, als nichts passierte. Er fühlte sich gerädert und ausgelaugt.
Ein Blick auf die Schiffskontrollen und das Außenbild. Mehrere Ausfälle wurden ihm signalisiert - nichts Gravierendes. Kein Kontakt auf dem Außensichtbild und im Radar - soweit man etwas erkennen konnte.
Nächster Befehl - Vitalitätskontrolle der Besatzung - und tiefes Durchatmen ... alle im grünen Bereich.
Der vorsichtige Kaufmann in Draghi brach durch.
Er beschloß sofort den Ortungsschutz des nächstgelegenen großen Asteroiden zu nutzen, dort die Besatzung zu mobilisieren und erste Reparaturen vorzunehmen.
Dann würde man weitersehen.
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"... doch Old_Paddy." Draghi´s Stimme wurde durch die Kapselsensorik authentisch moduliert wiedergegeben und klang beschwörend.
"Ich stehe hier in einem sehr ergiebig aussehenden Roidgürtel. Auch ohne Scanner sehe ich Arkonor und Bistot und das beste - zu meinem Glück sind hier keine Piraten. Lass meine genaue Position durch die CONCORD anmessen, wahrscheinlich bin ich weit draussen, deine Feldstärke ist ziemlich schwach. Und dann schick´ein Abbaukommando mit Eskorte hierher, ich bleibe solange hier - zwangsweise."
"Brauchst du irgendwelche Ersatzteile?"
"Nein, nur einen Leithammel, die DEFIANT ist flugfähig, aber ich kann keine Ferntastung vornehmen. Mindestens ein Sprungtor gibt es aber hier."
"OK, wird ein paar Stunden dauern, aber wir kommen. Ciao, Draghi!"
"Bis denne - ciao Paddy, cu!"
Draghi unterbrach die Verbindung und ließ die Kamerasonde einen langsamen Schwenk machen. Verheißungsvoll glitzerten und leuchteten die Edelmetall-Asteroiden in dunklem Grün, intensivem Rot und irisierendem Weißblau.
In Gedanken überschlug der stellvertretende Leiter der Abteilung COMMERCE der X-Trading Company bereits den zu erwartenden Gewinn.
"Mit Sicherheit lohnend, trotz der Reparaturkosten," dachte Draghi, "auch wenn wir es an der nächsten Station aufbereiten müssen und nicht bei uns selbst."
Zufrieden ließ er seine Gedanken schweifen ...
© Johannes Zumbansen
aka: JohnBe (2001-2007)